Um 1900 war das Amt Wattenscheid ein aufstrebendes Gemeinwesen. Das historische Zentrum war der Marktplatz. Das Areal wurde im Süden von der Wattenscheider Kirchenburg mit der katholischen Propsteikirche St. Gertrud von Brabant, im Norden von der evangelisch-lutherischen Kirche und im Osten von der im ausgehenden 19. Jahrhundert beginnenden Bebauung mit gründerzeitlichen Geschäftshäusern eingefasst. Im Westen bildete die damalige Marktstraße den Abschluss des Stadtkerns.
Das Beitragsbild, eine 1923 als Postkarte im Wattenscheider Verlag F. Ahlmann gedruckte Lithographie (Sammlung Ludwig Schönefeld), zeigt die historische Altstadt. Rechts erkennen wir die Propsteikirche, links die evangelische Kirche am Markt. Im Hintergrund sind die Friedenskirche und die Anlagen des Bochumer Vereins zu erkennen.
Die an der Marktstraße um die Jahrhundertwende gebauten Wohnhäuser sehen wir auf der folgenden Postkarte (Verlag Cramers Kunstanstalt, Dortmund – Sammlung Ludwig Schönefeld). Auch sie wurde 1923 hergestellt. Die Flächen und Teile des Grabelands im Vordergrund wurden wenig später befestigt und gemeinsam mit der Straße von 1926 bis zum Bau des 2005 eröffneten Gertrudis-Centers unter dem Namen Gertrudisplatz als Markt- und Kirmesplatz genutzt.
WATTENSCHEIDER STRASSEN
Die vermutlich wichtigste Straße in Wattenscheid war an der Wende zum 20. Jahrhundert die Nordstrasse. Sie führte in das unmittelbar benachbarte Amt Ueckendorf, zum 1867 eröffneten Bahnhof „Ueckendorf-Wattenscheid“ der Rheinischen Eisenbahn und in das Amt Gelsenkirchen. Um die Jahrhundertwende waren noch die Schreibweise der Straßen mit Doppel-S und im Ortsnamen von Ückendorf das „Ue“ üblich.
Die Verbindung zur Zeche Centrum auf der Wattenscheider Heide und weiter nach Bochum stellte die Oststrasse her. Sie verband die Häuser an der Propsteikirche mit der 1879/80 errichten evangelischen Friedenskirche. Dort wechselte sie ihren Namen und wurde zur Hochstrasse. Von der 1916 ausgebauten Querstrasse bis zur Grenze nach Hamme heißt der über die Heide nach Bochum führende Straßenzug seit 1905 Bochumer Strasse.
Auf der nachfolgenden Postkarte ist noch die ursprüngliche Bebauung der Oststrasse in Höhe der Friedenskirche zu sehen (Verlag Caspar Gerwens, Wattenscheid – Sammlung Ludwig Schönefeld). Die Häuser und der Garten auf der linken Seite wurden später durch größere Geschäftshäuser ersetzt.
Die Weststrasse führte vom Markt in die Gemeinde Leithe. Die damalige Südstraße (seit 1926 „An der Papenburg“) verband das Wattenscheider Zentrum mit dem 1874 durch die Bergisch-Märkische Eisenbahn eröffneten Bahnhof Wattenscheid.
Ein weiterer, für die Entwicklung des Amtes Wattenscheid wichtiger Straßenzug war und ist die 1880 angelegte Hüller Strasse. Sie führt bis heute in die im Norden benachbarte Gemeinde Hüllen. Von ihr zweigte nach der Überquerung der Rheinischen Eisenbahn die durch Günnigfeld nach Hordel führende Hordeler Strasse ab. Seit 1926 bildet sie den westlichen Teil der Günnigfelder Straße.
Nach Höntrop und Eppendorf führte die Chausseestrasse, die gerne auch „Westenfelder Chaussee“ genannt wurde (seit 1926 „Westenfelder Straße“).
Die Nordstrasse, die Ostrasse und die Weststrasse nahmen ebenso wie die Hüller Strasse und die Chausseestrasse im Verlauf der Wattenscheider Geschichte Straßenbahnlinien auf. Im Zentrum wurde die Straßenbahn darüber hinaus durch die Freiheitstrasse geführt. Auch die 1905 von der Chausseestrasse zum Bahnhof Wattenscheid abzweigende Bahnhofstraße wurde zeitweise von Straßenbahnen befahren.
AMT UND STADT
Die Freiheitstrasse ist seit 1900 nach den stadtähnlichen Freiheitsrechten benannt, die dem Dorf Wattenscheid durch den Grafen Adolf IV von der Mark (1398 – 1448) verliehen worden waren.
Vom 1. August 1816 war Wattenscheid eine Bürgermeisterei, deren Amtsbezirk von Hessler und Braubauerschaft (Bismarck) an der Emscher bis an die Ruhr bei Königssteele reichte.
1868 verlor das Amt Wattenscheid die Gemeinden im Nordwesten der Stadt an das Amt Gelsenkirchen. Ueckendorf wurde 1876 selbständig. Das Zentrum von Wattenscheid erhielt im gleichen Jahr Stadtrechte.
1885 musste Königssteele an das Amt Hattingen abgetreten werden. Das Stadt und das Amt Wattenscheid wurden zeitgleich dem Landkreis Gelsenkirchen zugeordnet.
MITTELSTADT WATTENSCHEID
Vom 21. bis zum 29. Juni 1925 feierte die Stadt den 500. Jahrestag der Verleihung der Freiheitsrechte. Zu diesem Anlass erschien die oben abgebildete Postkarte, auf der die drei Säulen des Gemeinwesens – Religion, Bergbau und die Freude am gemeinsamen Feiern – künstlerisch vereint wurden. Auch der Titel dieser Website – „KIRCHE, KOHLE UND KARNEVAL“ – verweist darauf.
Zum 1. April 1926 entstand aus der Stadt Wattenscheid und den im Amt Wattenscheid verbliebenen Gemeinden die neue Mittelstadt Wattenscheid. Zahlreiche Straßen wurden in diesem Zusammenhang neu benannt.
Am 1. Januar 1975 wurde Wattenscheid gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung nach Bochum eingemeindet.
WICHTIGSTER VERKEHRSTRÄGER
Die Straßenbahn entwickelte sich im beginnenden 20. Jahrhundert zum wichtigsten öffentlichen Verkehrsträger in Wattenscheid. Um 1910 gab es auf engstem Raum bereits zwei wichtige Verbindungen:
Eine Linie vom Schalker Markt zum Bergisch-Märkischen Bahnhof in Bochum, die von Siemens & Halske im Auftrag der 1896 gegründeten Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahn AG betrieben wurde. Sie war die erste Direktverbindung zwischen den aufstrebenden Nachbarstädten und war dabei attraktiver als die über Wanne führende Eisenbahnverbindung.
Und die Linie Herne – Baukau – Wattenscheid – Höntrop: Sie wurde 1908 von der Kommunalen Straßenbahn-Gesellschaft Landkreis Gelsenkirchen eröffnet. Die Betriebsführung übernahm mit Vertrag vom 12. November 1913 die 1912 gegründete Westfälische Straßenbahn GmbH mit Sitz in Gerthe in Westfalen.
KONKURRENZ
Die Straßenbahnen und ihre Gesellschafter waren anfangs Konkurrenten. Bei der Konzessionierung oder bei der Forderung nach einer neuen Verkehrsverbindung hatte die Kommunalpolitik vor allem die Entwicklung der eigenen Gemeinde im Auge.
Eine moderne Verkehrsverbindung konnte die Ansiedlung von Bergbau- und Industriebetrieben fördern und Kaufkraft in das eigene Zentrum ziehen. Wie die Geschichte der Kommunalen Straßenbahn zeigt, ging die Rechnung der Politik dabei nicht immer auf.
ROT UND GRÜN
Äußerlich unterschieden sich die Gesellschaften anfangs durch die Farbgebung: Die Triebwagen der „WestfäIischen“, wie sie im Volksmund genannt wurde, waren im braungrünen Farbton der Kommunalen Straßenbahn-Gesellschaft Landkreis Gelsenkirchen lackiert. Später wurde diese Lackierung durch einen dunklen Beigeton ersetzt.
Die Wagen der Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen AG waren bis zur Fensterlinie in Rot und im Bereich der Verglasung in einem altweißen Farbton lackiert. In den 1930er-Jahren erhielten sie die bis in die 1980er-Jahre hinein beibehaltene Lackierung in Beige mit grünem Zierstreifen.