WERTVOLLE BÄUME

Im vorangegangenen Kapitel haben Sie meinen Großonkel Max Vennemann kennengelernt. In diesem Kapitel geht es um seinen Vater, den Arzt Paul Vennemann (1866 – 1938).

Das Beitragsbild aus diesem Kapitel kennen Sie bereits aus den Erinnerungen von Max Vennemann. Der Verlag bot die Postkarte auch in Farbe an (Verlag Reinicke & Rubin, Magdeburg – Sammlung Ludwig Schönefeld). In der colorierten Variante recht gut Bäume vor dem Haus von Paul Vennemann zu erkennen. Die vier Linden waren unter anderem der Grund für einen mehrjährigen Rechtsstreit zwischen meinem Urgroßvater Paul Vennemann und der Stadt Wattenscheid. Sie sind auch ein frühes Beispiel dafür, dass ökologische Argumente bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei öffentlichen Bauvorhaben eine Rolle spielten.

DR. PAUL VENNEMANN

Im Juli 1895 übertrug der Kirchenvorstand der Propsteigemeinde St. Gertrud meinem Urgroßvater die Leitung des Wattenscheider Marienhospitals. Zuvor hatte er über mehrere Jahre als Erster Assistenzarzt in der Abteilung für Chirurgie und Frauenkrankheiten des Elisabeth-Hospitals in Bochum gearbeitet. Aus dieser Tätigkeit verfügte der damals 29jährige Arzt über sehr gute Referenzen.

Nur einen Monat später, im August 1895 konnte Dr. Paul Vennemann für 50000 Mark von seinem Vorgänger, Sanitätsrat Dr. Albert Kayser, ein Wohnhaus an der Hochstraße 11 sowie die im Erdgeschoss untergebrachte Praxis übernehmen. Nach dem Wechsel in den Ruhestand plante Dr. Kayser einen Umzug nach Honnef am Rhein.

Am 1. November 1895 ließ sich Dr. Paul Vennemann neben seiner Tätigkeit als Leiter des Marienhospitals auch als „Praktischer Arzt“ in Wattenscheid nieder. Die Kombination aus der Leitung eines Krankenhauses und einer eigenen Praxis war zur damaligen Zeit üblich.

Als niedergelassener Arzt betreute Dr. Paul Vennemann sowohl die Patienten seiner Allgemeinpraxis als auch Bergleute, die dem 1890 in Bochum gegründeten Allgemeinen Knappschaftsverein beigetreten waren. Die „Knappschaft“ vertrat die Interessen der Bergleute gegenüber den Zechen. Darüber hinaus diente sie der sozialen und gesundheitlichen Absicherung. Als Mitglieder der Knappschaft konnten die Bergleute die Leistungen von Ärzten in Anspruch nehmen, die mit dem Knappschaftsverein kooperierten. Später sicherte die „Knappschaft“ auch die Ärzte und ihre Familien ab.

In der Vorstandssitzung vom 7. April 1896 bestellte der Knappschaftsverein Dr. Paul Vennemann zum Knappschaftsarzt in Wattenscheid. Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Hellwegstadt insgesamt vier Knappschaftsärzte. Mein Urgroßvater war für den „Kurbezirk Nr. 40“ verantwortlich. Dieser umfasste die stadtnahe Gemeinde Westenfeld, in der Gemeinde Höntrop den Teil nördlich der Chaussee von Bochum nach Steele, in der Gemeinde Sevinghausen das an die Gemeinde Freisenbruch angrenzende Haferfeld sowie in der Gemeinde Hamme die Häuser 190 bis 195. Darüber hinaus unterstützte er die Grubenwehr bei Unfällen und Notfällen auf der in seinem Kurbezirk liegenden Zeche Fröhliche Morgensonne, aber auch auf der Zeche Holland. Nicht zuletzt gehörte die Leichenschau nach Gewaltverbrechen sowie bei ungeklärten Todesfällen zu den Aufgaben der Hausärzte: Anlässe, über die die Wattenscheider Zeitung gerne berichtete.

GEFAHRENSTELLE

Im Zusammenhang mit dem Bau der Straßenbahn geriet mein Urgroßvater gleichwohl in einem ganz anderen Zusammenhang in die Schlagzeilen. Die Trasse der Bahn lag zwischen Wattenscheid und Hamme auf der nördlichen Straßenseite. Das führte an der Hochstraße 11 zu einem Problem: Der mit einer niedrigen Mauer eingefasste Vorgarten der Villa Vennemann – als Villa wurde damals nicht ein hochherrschaftliches Haus, sondern ein freistehendes Gebäude bezeichnet – reichte bis an den Bordstein der Straße. Um die Engstelle zu passieren, liefen die Fußgänger über das Straßenbahngleis. Wenn sich ein Zug näherte, mussten sie warten oder das Trottoir auf der südlichen Straßenseite benutzen.

Um die Situation zu entschärfen, sollte der Vorgarten verschwinden und einem Bürgersteig Platz machen. Mit diesem Ziel nahm die Stadt Wattenscheid im Februar 1898 erste Gespräche auf. Mein Urgroßvater bot der Stadt Wattenscheid einen Tausch an. Er war bereit, den Vorgarten einzuebnen, wenn die Stadt zu seinen Gunsten ein vakantes, an den Garten angrenzendes, Grundstück ankaufen würde. Die Fläche entsprach mit 43 Quadratmetern in etwa der Größe des Vorgartens. Ausserdem sollten die vier Schatten spendenden Linden, die seit Jahren im Vorgarten des Hauses standen, bei der Anlage des Bürgersteigs erhalten bleiben.

KONFLIKT MIT DER STADT

Die Stadt wollte sich aufgrund der Kosten in Höhe von rund 2600 Mark auf den Vorschlag nicht einlassen. Sie plante in diesem wie auch in vergleichbaren Fällen eine Enteignung der Hauseigentümer. Ein Ansinnen, das Dr. Paul Vennemann so nicht akzeptieren wollte. Im Juni 1899 war die Sache nach wie vor pendent. Auch im Mai 1900 hatte sich in der Sache noch nichts bewegt.

Am 7. März 1901 wurde unter Leitung eines Beamten des Regierungspräsidiums in Arnsberg vor Ort ein Schlichtungstermin angesetzt. Die Stadt setzte die Enteignung durch. Daraufhin wurden der Garten und seine Einfassung eingeebnet. Die vier Linden jedoch blieben zunächst erhalten. Mittelfristig jedoch sollten sie gefällt werden.

Mein Urgroßvater zog sowohl gegen die Entschädigungssumme als auch gegen das Abholzen der Linden vor Gericht. In Summe forderte er für das Grundstück und für den Verlust der Lebensqualität durch die geplante Abholzung der Bäume eine Entschädigung in Höhe von 4000 Mark.

In der ersten Instanz, das Verfahren fand im Sommer 1902 statt, wurden dem Kläger 1300 Mark zugesprochen. Das entsprach nicht einmal dem Grundstückswert. So ging die Sache in die zweite Instanz, die die Entschädigungssumme auf 2100 Mark anhob. Die Stadt war weiterhin dagegen und zog die Sache nunmehr in die dritte Instanz. Vor dem Oberlandesgericht in Hamm war Dr. Paul Vennemann im Februar 1903 erneut erfolgreich, allerdings wurde die Entschädigung auf 1900 Mark reduziert. Neben dem Wert des Grundstücks zogen die Richter explizit auch die „Verluste an ideellen Vorteilen“ in Betracht.

BÄUME FÜR DIE KAISERSTRASSE

Nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts war klar, dass die vier Linden vor dem Haus fallen würden. Nun trat die Wattenscheider Zeitung auf den Plan und forderte im März 1903 als Kompensation für die vier Linden vor dem Vennemann´schen Haus Ersatzpflanzungen auf dem Wattenscheider Marktplatz, auf der neuen Kaiserstraße (heute Graf-Adolf-Straße) sowie auf der Chausseestraße (heute Westenfelder Straße).

Die Stadt gab dem öffentlichen Druck schließlich nach und setzte auf den genannten Straßen neue Bäume. So erhielt insbesondere die Kaiserstraße den Charakter einer grünen Allee, den sie, trotz einer zwischenzeitlichen Neupflanzung mit Platanen, bis heute erhalten hat. Der Baumbestand auf dem Marktplatz und im Zuge der Chausseestraße ist demgegenüber heute nicht mehr vorhanden.

PRÄZEDENZFALL

Der Rechtsstreit von Dr. Paul Vennemann hatte auch großen Einfluss auf den Ausbau weiterer Straßen. Dies sicher auch, weil die von Karl Busch geführte Wattenscheider Zeitung eine Enteignung von Vorgärten durch die Stadt verurteilte. Als die Stadt wenige Jahre nach dem Rechtsstreit mit meinem Urgroßvater auch im Verlauf der Hüller Straße die Enteignung von Grundstücken zur Anlage von Bürgersteigen anstrebte, entwickelte sich die „Casa Vennemann“ zum Präzedenzfall.

Nach der Beilegung des Rechtsstreits komplettierte die Stadt Wattenscheid den Bürgersteig in der Hochstraße. Auf der nachfolgend gezeigten Postkarte von 1912 ist die Veränderung gut erkennbar (Hermann Lorch Kunstanstalt, Dortmund – Sammlung Ludwig Schönefeld).

AUGUST-BEBEL-PLATZ

Nach dem Tod von Paul Vennemann am 17. März 1938 veräußerte die Familie die Villa an die Stadt Wattenscheid, um den Bau des heutigen August-Bebel-Platzes zu ermöglichen. Die Witwe des Arztes, Gertrude Vennemann (1876 – 1966), zog in das Haus ihrer Tochter Antonie und ihres Schwiegersohns Dr. Wilhelm Schönefeld (1892 – 1966) an der Freiheitstraße 8.

Bis der August-Bebel-Platz tatsächlich gebaut wurde, vergingen noch über zwei Jahrzehnte. Nach dem Abbruch der Villa war das Grundstück vorübergehend mit einem provisorischen Ladenlokal überbaut.

Erst nach dem Abbruch des Wattenscheider Gymnasiums – ein Ersatzgebäude, das heutige Märkische Gymnasium, hatte man 1958 an der Saarlandstraße errichtet – konnte der der Bau des August-Bebel-Platzes beginnen. Auf der im Sommer 1958 entstandenen Luftaufnahme des Wattenscheider Zentrums ist eine große Baulücke zu erkennen. Sie war durch den Abbruch des Gymnasiums und des Ladenlokals auf dem ehemaligen Grundstück der Familie Vennemann entstanden (Verlag Cramers Kunstanstalt, Dortmund – Sammlung Ludwig Schönefeld).

Klicken Sie auf das Bild, um die Brache des abgebrochenen Gymnasiums und das ehemalige Grundstück der Familie Vennemann besser zu erkennen.

GRAF-ADOLF-STRASSE

An den Rechtsstreit zwischen Dr. Paul Vennemann und der Stadt Wattenscheid erinnern bis heute die prächtigen Bäume der Graf-Adolf-Straße. Die heute vorhandenen Platanen – das nachfolgende Foto entstand im April 2023 – haben die Erstbepflanzung abgelöst. Derzeit ist nicht klar, ob die Bäume, die sowohl Alters- als auch Umweltschäden aufweisen, erhalten werden können oder ob erneut eine Neubepflanzung notwendig sein wird.